Donnerstag, 5. Juni

63

Der nächtliche Sturm hatte die letzten Blüten von den Bäumen gerissen, dafür aber den Himmel freigefegt. Die Blattgoldfassade des Königlichen Theaters glitzerte in der Morgensonne. Auf der anderen Seite des Strandvägens bildeten sich Menschentrauben vor den Landebrücken der Ausflugsschiffe. Niemand hatte einen blauen Himmel erwartet. Ein älteres Ehepaar stapelte Reisetaschen für einen längeren Aufenthalt in den Schären. Eine Gruppe nicht mehr ganz junger Männer beglückwünschte sich durch lautes Abklatschen dafür, dass es nach dem ausschweifenden Abend alle pünktlich hierher geschafft hatten. Es war zwanzig Minuten nach neun.

Ein Taxi kam von Blasieholmen angerast und bremste vor der Anlegestelle. Die nicht mehr ganz so jungen Männer musterten die blonde Frau, die aus der hinteren Tür ausstieg. Sie wäre ein weiterer Grund für lautstarkes Abklatschen gewesen. Aber leider kam sie nicht allein.

Ida half dem Taxifahrer dabei, den Rollstuhl aus dem Kofferraum zu heben und aufzuklappen. Inzwischen hatte Kjell einige Routine darin, seinen Körper in den Rollstuhl zu hieven. Die Schiene an seinem rechten Fuß fühlte sich an wie ein Skischuh. Seine Hüfte bereitete ihm noch größere Beschwerden. Beim Ausrutschen war er damit auf den flachen Fels aufgeschlagen. Das hatte ihm rechts eine Prellung beschert, die symmetrisches Sitzen unmöglich machte.

„Schau, wie schön das Wetter ist.“

Kjell schwieg wie ein Kriegsveteran, der das Leben aufgegeben hatte. Zum Glück hatte Linda angerufen. Die Schmierölpumpe tropfte. Linda war nach eigenen Angaben wie der Teufel gesegelt und vorgestern in Sandhamn eingelaufen.

Drei je zwanzig Meter lange Ausflugsschiffe lagen da, und vor jedem hatte sich eine Schlange gebildet. Das erste Schiff fuhr nach Mojö, das zweite nur bis Vaxholm.

„Ich frag mal“, sagte Ida.

„Es muss das dritte sein, Ida. Da musst du nicht fragen.“

„Lass mich doch fragen. Zur Sicherheit. Am Ende hält es beim Golfplatz in Nacka.“

Kjell hob resignierend die Hand. Da sie sich nicht ansehen konnten, während sie ihn schob, hatte er sich seit dem gestrigen Abend ein ausgereiftes System aus theatralischen Handgesten aus der italienischen Oper abgeschaut.

Die Frau mit der weißen Uniform nickte. „Sandhamn? Rein mit euch!“

Ida warf einen Blick ins Innere des Schiffes. Die Tische waren längst belegt. Auf dem Sonnendeck am Heck sah man Passagiere um Stühle zanken.

„Die meisten steigen in Vaxholm aus“, sagte Kjell. „Lass uns solange hier vorne bleiben. Ich will ohnehin lieber draußen sein.“

Sie warteten, bis alle ins Innere verschwunden waren und sie das Vorderdeck für sich allein hatten. Das Schiff legte ab und wendete in der Bucht. Ida rollte Kjell mit dem Rücken zur Kabinenwand.

„Du musst die Bremse fixieren.“

„So schnell wird das Schiff schon nicht fahren“, erwiderte Ida. „Es ist ein Ausflugsschiff.“

„Wieso stellst du Vermutungen an, wenn du noch nie mit so einem Schiff gefahren bist? Was meinst du, warum wir hier vorne ganz allein sind?“

Ida seufzte und drückte auf die Bremse. Das Schiff fuhr in sanfter Geschwindigkeit am Strandvägen entlang und passierte schließlich den Tivoli mit der schlafenden Achterbahn und danach Beckholmen. Dort hing ein Mann mit einer Schaukel an einem trockengelegten Schiffsbug und winkte dem vorbeifahrenden Schiff mit seiner Farbrolle zu. Ida winkte zurück.

„Ich gehe mal rein und kaufe Kaffee und Zimtschnecken, ja? Dann machen wir es uns gemütlich.“

Sie musste lange anstehen. Natürlich fanden auch alle anderen Passagiere, dass das Glück nicht vollkommen sein konnte, wenn man dabei nicht eine Tasse Kaffee in der Hand hielt.

Durch die Fenster sah Ida die Tanksilos von Nacka vorbeiziehen. Als sie an die Reihe kam, machte das Schiff einen kräftigen Ruck. Die Küste zog jetzt nur noch unscharf vorbei. Ida warf einen Blick zum Sonnendeck und sah hinter dem Heck zwei riesige Wasserfontänen in die Luft schießen. Sie wankte mit zwei Bechern in der Hand zurück zum Vorderdeck. Dort bekam sie die Tür nicht auf, obwohl sie mit ihrem ganzen Gewicht dagegen drückte. Anscheinend hatte der Fahrtwind zugenommen. Die Frau in der Uniform kam ihr zur Hilfe.

Das ganze Deck war nass. Kjell saß vornübergebeugt da und drückte Wasser aus seinem Haar.

Ida musste gegen die Zugluft anschreien. „Was ist passiert?“

Die Frau in der Uniform entschuldigte sich und rannte los, um ein Handtuch zu holen. Kjell warf Ida einen Es-ist-nur-ein-Ausflugsschiff-Blick zu.

„Warte, ich schiebe dich rein.“

Er schüttelte den Kopf. „Das war nur ein unglücklicher Zufall. Die Bugwellen dreien Schiffe haben sich gegen mich vereint.“

„Willst du deinen Kaffee?“

Er streckte die Hand aus. Ida lehnte sich gegen die schräge Vorderwand und fischte die beiden Zimtschnecken aus den Taschen ihrer Jacke. Der Wind wehte so stark, dass Idas Haar waagerecht in der Luft stand. Kjell holte sein Telefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.

„Wen willst du denn jetzt anrufen?“, schrie Ida.

„Ich weiß jetzt, wie sie sich jedes Mal so schnell aus dem Staub machen konnten.“

03 - Der kopflose Engel
cover.html
Scholten_Der kopflose Engel.html
Scholten_Der kopflose Engel-1.html
Scholten_Der kopflose Engel-2.html
Scholten_Der kopflose Engel-3.html
Scholten_Der kopflose Engel-4.html
Scholten_Der kopflose Engel-5.html
Scholten_Der kopflose Engel-6.html
Scholten_Der kopflose Engel-7.html
Scholten_Der kopflose Engel-8.html
Scholten_Der kopflose Engel-9.html
Scholten_Der kopflose Engel-10.html
Scholten_Der kopflose Engel-11.html
Scholten_Der kopflose Engel-12.html
Scholten_Der kopflose Engel-13.html
Scholten_Der kopflose Engel-14.html
Scholten_Der kopflose Engel-15.html
Scholten_Der kopflose Engel-16.html
Scholten_Der kopflose Engel-17.html
Scholten_Der kopflose Engel-18.html
Scholten_Der kopflose Engel-19.html
Scholten_Der kopflose Engel-20.html
Scholten_Der kopflose Engel-21.html
Scholten_Der kopflose Engel-22.html
Scholten_Der kopflose Engel-23.html
Scholten_Der kopflose Engel-24.html
Scholten_Der kopflose Engel-25.html
Scholten_Der kopflose Engel-26.html
Scholten_Der kopflose Engel-27.html
Scholten_Der kopflose Engel-28.html
Scholten_Der kopflose Engel-29.html
Scholten_Der kopflose Engel-30.html
Scholten_Der kopflose Engel-31.html
Scholten_Der kopflose Engel-32.html
Scholten_Der kopflose Engel-33.html
Scholten_Der kopflose Engel-34.html
Scholten_Der kopflose Engel-35.html
Scholten_Der kopflose Engel-36.html
Scholten_Der kopflose Engel-37.html
Scholten_Der kopflose Engel-38.html
Scholten_Der kopflose Engel-39.html
Scholten_Der kopflose Engel-40.html
Scholten_Der kopflose Engel-41.html
Scholten_Der kopflose Engel-42.html
Scholten_Der kopflose Engel-43.html
Scholten_Der kopflose Engel-44.html
Scholten_Der kopflose Engel-45.html
Scholten_Der kopflose Engel-46.html
Scholten_Der kopflose Engel-47.html
Scholten_Der kopflose Engel-48.html
Scholten_Der kopflose Engel-49.html
Scholten_Der kopflose Engel-50.html
Scholten_Der kopflose Engel-51.html
Scholten_Der kopflose Engel-52.html
Scholten_Der kopflose Engel-53.html
Scholten_Der kopflose Engel-54.html
Scholten_Der kopflose Engel-55.html
Scholten_Der kopflose Engel-56.html
Scholten_Der kopflose Engel-57.html
Scholten_Der kopflose Engel-58.html
Scholten_Der kopflose Engel-59.html
Scholten_Der kopflose Engel-60.html
Scholten_Der kopflose Engel-61.html
Scholten_Der kopflose Engel-62.html
Scholten_Der kopflose Engel-63.html
Scholten_Der kopflose Engel-64.html
Scholten_Der kopflose Engel-65.html
Scholten_Der kopflose Engel-66.html
Scholten_Der kopflose Engel-67.html
Scholten_Der kopflose Engel-68.html
Scholten_Der kopflose Engel-69.html
Scholten_Der kopflose Engel-70.html
Scholten_Der kopflose Engel-71.html
Scholten_Der kopflose Engel-72.html
Scholten_Der kopflose Engel-73.html
Scholten_Der kopflose Engel-74.html
Scholten_Der kopflose Engel-75.html
Scholten_Der kopflose Engel-76.html
Scholten_Der kopflose Engel-77.html
Scholten_Der kopflose Engel-78.html
Scholten_Der kopflose Engel-79.html
Scholten_Der kopflose Engel-80.html
Scholten_Der kopflose Engel-81.html
Scholten_Der kopflose Engel-82.html
Scholten_Der kopflose Engel-83.html
Scholten_Der kopflose Engel-84.html
Scholten_Der kopflose Engel-85.html
Scholten_Der kopflose Engel-86.html
Scholten_Der kopflose Engel-87.html
Scholten_Der kopflose Engel-88.html
Scholten_Der kopflose Engel-89.html
Scholten_Der kopflose Engel-90.html